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Ca.
1926: Der Satiriker Moszkowski erlebt Wintersport, Eiseskälte
und
den angeblich ewig blauen Himmel über dem Gotthard
Lust im Eise, von Alexander Moszkowski (1851-1934) Gewisse Anzeichen der organischen Welt weisen darauf hin, dass es sich im Eise ganz behaglich leben lässt, ich denke dabei wesentlich an ein liebes Insekt, den Gletscherfloh (Desoria glacialis), der sich zeitlebens, unabhängig von der Jahreszeit mit allem Eifer dem Wintersport hingibt. Er macht, wie ich selbst mit der Lupe in der Hand beobachtet habe, in den feinen Gletscherspalten die verwegensten Sprünge, und er beweist dabei in rapider Vermehrung, wie trefflich ihm diese Leibesübung bekommt. Nicht einmal das Kaninchen oder der Karpfen kann es an Fortpflanzungsstärke mit ihm aufnehmen, er hält in dieser Hinsicht den Weltrekord, er erzeugt ein Gewimmel, das die glitzernden Eiswohnungen streckenweise ganz dunkel färbt. Aus dem Wintersport schöpft er seine Kraft, und ihm ist dieser Sport nur in seiner Erfreulichkeit ohne störende Begleiterscheinung bekannt. Er bricht sich kein Bein, verstaucht sich keinen Knöchel und erkältet sich nie. Aber es ist mir sehr zweifelhaft, ob seine Lebensweise auch für den Menschen vorbildlich werden könnte. Ich bin in dieser Hinsicht sehr ketzerisch gestimmt, und um es rund herauszusagen: ich halte dafür, dass der Wintersport ein Reservat der Gletscherflöhe bleiben müsste; und diese Verstocktheit hat meinen Freunden und Kollegen schon sehr viel Sorge verursacht. Mir fehlt das Organ für die menschlich betätigte Eisliebhaberei, ja ich besitze einen Nerv, der hierauf mit direkt feindlichem Protest gegenschwingt. Alles Winterliche ist für mich ein Verhängnis, mit dem man sich stoisch abzufinden hat, ohne es sich epikuräisch in eine Lust umzuschmeicheln. Mir erscheint es ethisch bedenklich, den Winter, den grimmigsten Feind der Menschheit, als gut Freund zu behandeln, mit ihm zu liebäugeln und aus seiner Hand Freuden entgegenzunehmen, die nichts anderes sein können, als maskierte Bosheiten. Mit Schauder gedenken wir alle der verflossenen geologischen Eiszeiten, und ach wie nahe ist uns die nächste! Noch ein paar lumpige Jahrtausende, und eine neue Eiszeit kommt über uns, um uns recht nachdrücklich beizubringen, wie es der Winter im letzten Grunde mit uns meint. Und inzwischen kokettieren wir mit ihm, reden ihm und uns ein, er wäre doch eigentlich eine recht fidele Angelegenheit. Meine wintersportelnden Freunde halten mich für rückständig, sie beklagen meinen Defekt und beeifern sich seit Jahren, um mir die eis- und schneewidrigen Mucken auszutreiben. Ganz natürlich. Der Mensch will auf den Nebenmenschen einwirken, da ihm die Bewusstseinsharmonie anderer Geschöpfe fremd ist. Für die Gletscherflöhe in Menschengestalt bin ich ein degenerierter Nebenfloh, dem die richtige Glacialempfindung erst eingetrichtert werden muss. Und eines Tages fand ich meinen Widerstand überwältigt. In der Kraftprobe des Einzelnen gegen viele konnte ich nicht durchhalten. Meine Freunde beschlossen in kompakter Phalanx, dass ich meinem eigenen Winterglück nicht länger in den Weg treten dürfe. Also wurde ich in einem frostklirrenden Januar ins klassische Sportgelände spediert. Man liess mir die Wahl zwischen Schweiz, Tirol und Oberbayern. Aber dass ich nur nicht heimkehrte, ohne die Schüssel der Winterfreuden bis auf die Grundsuppe ausgelöffelt zu haben! Ich wollte zuerst ins Engadin, entschied mich aber schliesslich aus finanztechnischen Gründen fürs Gotthardgebiet, weil die Preise in Graubünden nach höherer Algebra, die im Kanton Uri nur nach mittlerer berechnet werden. Unterwegs überlegte ich zaghaft: Und wie, wenn ich dort nun gerade in ein wütendes Schneetreiben hineingerate, das mir prasselnd ins Gesicht schlägt? Ausgeschlossen! hatten mir die Berliner Fexe versichert: man erlebt immer nur den ewig blauen Himmel in beglückender Sonnenwärme über der unendlichen Schneedecke. Und wann fällt eigentlich dieser unendliche Schnee? Das geht den Touristen gar nichts an; die weise Natur hat das so eingerichtet, dass man ihn immer schon fertig vorfindet, ohne jemals durch ein Flockengewirbel belästigt zu werden. Na, wir werden ja sehen! In Göschenen machte ich halt. Ich hatte das Glück, an der abendlichen Wirtstafel eine Autorität vorzufinden, einen schwedischen Sportmeister, der mir aus dem reichen Schatz seiner Erfahrungen schätzbare Winke einflösste. "Sie als Neuling müssen sich zuerst in die Landschaft einleben, bevor Sie es mit dem Radeln und Skilaufen riskieren. Also beginnen Sie morgen früh mit einer Fusswanderung nach Andermatt, süperber Weg übrigens, dort nehmen Sie einen Pferdeschlitten, kehren nach Göschenen zurück, und dann werde ich Ihnen die Anfangsgründe des eigentlichen Sports beibringen." Das Hotel befand sich in einem Zwischenstadium. Es besass mächtige Kachelöfen, wollte aber gerade zur Zentralheizung übergehen; mit der Folge, dass momentan überhaupt nicht geheizt wurde. Die Schlafnacht im Zimmer war mithin sehr geeignet, um mich abhärtend zu akklimatisieren. Nach dem Gefühl zu urteilen befand sich im Bett eine Temperatur von sieben Grad im Schatten, natürlich unter Null. So ungefähr hatte ich mir ein erstes Übernachten auf Spitzbergen oder in Labrador vorgestellt. Aber der Frühstückskaffee war wärmer, und mit dieser letzten Ölung versehen, machte ich mich auf die Wanderschaft. Die Sache mit dem ewigblauen Himmel stimmte nicht ganz. Es irisierte ein bisschen ins Gelblichgraue hinüber, und es wimmelte etwas in der Luft. Flocken? Ach, wie wohl wäre mir gewesen, wenn es auf gut winterlich in Flocken gestöbert hätte. Aber das waren Eisnadeln, Milliarden mikroskopischer Dolche, atomkleine Splitter von Rasierklingen, die sich mir ins Gesicht bohrten. Ich biss die Zähne zusammen und dachte mit hygienischem Aufschwung: Gott, muss das gesund sein, wenn man da lebendig herauskommt! Auch mit dem Schneeparkett war etwas nicht in Ordnung. Es zeigte eisige Struktur, bestand aus zusammengebackenen Klümpchen, die das Kunststück zuwege brachten, zugleich sehr holprig zu sein und sehr glitschig zu wirken. Es war mir zweifelhaft, ob ich auch nur die nächste Dorfecke erreichen würde. Aber die Technik überwindet alles. Der Schwede, der meine Verlegenheit bemerkt hatte, kam mir nach und behändigte mir leihweise einen derben Knotenstock mit scharfer Stahlzwinge. Den sollte ich nur immer Schritt für Schritt in das graupliche Gefüge einstossen, dann würde es schon gehen. Und es ging wirklich. Ich humpelte die nächsten hundert Meter über Erwarten gut. Für den normalen Wanderer ist die Strecke von Göschenen bis Andermatt ein Spaziergang von wenig über eine Stunde. Ich brauchte dazu etwas mehr, nämlich von 9 Uhr früh bis abends 8 Uhr. Streckenweise bewegte ich mich horizontal, je nachdem ich beim Ausrutschen auf den Rücken oder auf den Bauch fiel. Und in diesen Tagen kam mir die berühmte Landschaft nicht sonderlich reizvoll vor. Desto liebenswürdiger erschien mir im Rückblick Göschenen, denn dort hatte ich wenigstens mein Gepäck, während ich hier ohne Nachthemd und Zahnbürste dasass. Aber man bekommt in Andermatt alles zu kaufen, namentlich auch Vaseline und Borsalbe für den Gesichtsteint, der bei mir infolge der luftigen Eisnadeln an den geschundenen Raubritter erinnerte. Der Wintersport war übrigens wie der Augenschein lehrte, im Urserental nicht recht im Gange. Ich erkundigte mich nach den Matadoren vom Bobsleigh, Ski und Skeleton, ob denn die ausgeblieben wären. Nein, so hiess es, sie befinden sich hier im Ort, sind indes zurzeit nicht sichtbar. Man nannte mir die Namen: den gefeierten Sportlöwen Douglas aus Oxford, den unerreichten Telemarkspringer Hendriksen aus Christiania, den fabelhaften Rennwolfvirtuosen Pfyffi aus Zürich und noch viele andere. Ja, die exzellierten hier schon seit Wochen, nur hätte ich es insofern etwas ungünstig abgepasst, als die Herren gerade heute mit komplizierten Rippenbrüchen in Gips lägen. Nunmehr nahm ich mir, der erhaltenen Weisung getreu, einen Pferdeschlitten, um durch die Felsenschlucht der Schöllenen und über die Teufelsbrücke, hoch über der kristallisch glitzernden Reuss, zwischen starrenden Felshängen und unermesslichen Abgründen nach Göschenen zurückzukehren, wo der instruktionslüsterne Schwede mich erwartete. Schon schmeichelte ich mir mit dem freudigen Stolz, mein erstes Programm gelöst zu haben, als ein Verhängnis mich ereilte. Denn halbenwegs an einer scharfen Biegung kam mir ein Lastschlitten entgegen, der Baumstämme geladen hatte, so lang wie die Zedern vom Libanon. Die Katastrophe stand vor mir. Undenkbar, an einander vorbeizukommen, und ebenso unmöglich, auf dem abenteuerlichen Schmalsteg zwischen Felsmauer und Schlucht, gleichsam in der leeren Luft umzuwenden. Nach menschlichem Ermessen musste dieser Zustand fortbestehen bis zum Ende der Weltgeschichte. Falls nicht etwa die Regierung von Uri die beiden Schlitten mit Dynamit auseinander sprengte. Hübscher Ausblick auf Marteln an der Felswand für die Fahrer, besonders zum Andenken an mich, der hierher gekommen war, um sich am Wintersport zu delektieren. Wie ich aus dieser vermaledeiten Situation herauskam? Ignorabimus. Genug, dass ich einige Tage später an meine heimatlichen Kollegen eine ganz frohlaunige Ansichtskarte zu senden vermochte. Sie war von der italienischen Riviera datiert und enthielt die Mitteilung, dass ich in San Remo endlich ein sehr praktisches Standquartier entdeckt hätte, bei 32 Wärmegraden, also unter klimatischen Bedingungen, bei denen das Gefrorene nur in Form von Vanille- und Mokkaeis gedeiht. Und in einem Pflanzenparadies den Frühsommer im Januar zu erleben, das wäre doch ein ganz lohnender Wintersport. Seitdem gelte ich bei den Kollegen als hoffnungslos verpfuscht. Sie bearbeiten mich nicht mehr, sie haben nur noch ein sanftes Bedauern übrig für meine unheilbare Perversität. |
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